Bin ich einsam oder einfach gern allein?
In Momenten des Allein-Seins schlummert eine große Kraft, die helfen kann, sich selbst besser kennenzulernen, um innerlich gestärkt daraus hervorzugehen.
Wenn wir im Deutschen vom Alleinsein sprechen, gibt es dafür nur einen Begriff: Einsamkeit. Und wer einsam ist, dem fehlt etwas. Sich einsam zu fühlen, heißt, isoliert zu sein, abgeschnitten vom Rest der Welt. Doch ist das zwangsläufig so? Führt der Zustand des Alleinseins immer zur Einsamkeit? Im Englischen gibt es da eine feine sprachliche Unterscheidung. Einsamkeit heißt dort "Loneliness". Dann gibt es aber noch diese erhabene und inspirierende Form des Alleinseins, genannt "Solitude". Es ist eines dieser englischen Wörter, die ins Deutsche nicht wörtlich übersetzt, sondern nur umschrieben werden können – zum Beispiel mit: "sich selbst genug sein".
Wie ist man sich selbst genug?
Vielleicht hat das Alleinsein ja deshalb einen so schlechten Ruf, weil wir uns davor fürchten, mit uns, unseren Gedanken und Gefühlen allein zu sein – ohne Ablenkung, ohne Pflichten oder Arbeiten, die es verhindern, dass wir mit uns selbst in Kontakt treten. Womöglich eine vertane Chance, findet jedenfalls der Londoner Philosoph Alain de Botton. Für ihn ist Alleinsein eine der spannendsten Selbsterfahrungen, die jeder Mensch machen kann. Er sieht darin eine Kraft, die sonst fehlt. Eine Gelegenheit, sich selbst – in einer Situation, in der man sich verlassen fühlt – neu begegnen zu können. Für Alain de Botton gibt es zwischen dem alltäglichen Leben und der Situation des Alleinseins ein künstlerisches Bindeglied: die Gemälde des amerikanischen Malers Edward Hopper. In seinem Essay "Über die Freuden der Traurigkeit", schreibt de Botton: "Edward Hopper gehört zu der Kategorie von Künstlern, deren Werk traurig ist, uns aber nicht traurig macht – die malerische Entsprechung zu Bach oder Leonard Cohen. Einsamkeit ist das beherrschende Thema seiner Kunst. Doch trotz der Trostlosigkeit, die Hoppers Gemälde abbilden, ist es nicht trostlos, sie zu betrachten."
Dem Ich das "Du"anbieten
Hoppers Bilder erzählen von Menschen, die allein in Hotelzimmern sitzen, eine schlaflose Nacht in einer Bar verbringen oder an einer Tankstelle im Nirgendwo die Stunden zählen. Vielleicht sprechen uns Hoppers Gemälde deshalb an, weil jeder dieses Gefühl, auf sich selbst gestellt zu sein, schon erlebt hat: auf einer Reise in einem anonymen Hotelzimmer, auf einer Straße in einem fremden Land, allein in einer unbekannten Stadt. Unter derartigen Umständen wird es unausweichlich, sich mit sich selbst zu beschäftigen – gewissermaßen dem eigenen Ich endlich das "Du" anzubieten und mit sich selbst einen Dialog zu beginnen. Nach Alain de Bottons Ansicht ist mit sich selbst allein zu sein die einfachste und wohl auch preiswerteste Art der Selbstverwirklichung. Wir müssen uns nur an einen anonymen Ort wie eine Tankstelle, einen Imbiss oder ein Zugabteil begeben und dem Gefühl, zwar unter Menschen, aber doch ganz bei uns zu sein, freien Lauf zu lassen. Dann setzen wir einen Prozess der Selbstverwirklichung in Gang, der uns zu Hause kaum gelingen kann. Weil dort die Routinen warten; die Familie, die Pflichten, die gemeinsam eingeübten Verhaltensmuster und die gewohnten Ablenkungen. Sich an Orten der Einsamkeit selbst zu begegnen, kann uns von diesen Zwängen befreien und gibt uns sogar die Möglichkeit, "die Vision eines betörenden alternativen Lebens" zu genießen. Sich eine Auszeit mit sich selbst zu gönnen, kann eben auch in ein gedankliches Was-wäre-wenn-Abenteuer münden, regt de Botton an.
Im Video zeigen wir 15 Dinge, die Sie mindestens einmal in Ihrem Leben allein getan haben sollten (Artikel wird darunter fortgesetzt):
Experiment: Sich selber besser kennenzulernen
Aber der eigentliche Wert dessen, mit sich selbst allein sein zu können, besteht wohl darin, sich selbst als den Menschen zu akzeptieren, der wir nun einmal sind, und den Wunsch zu entwickeln, diesen Menschen besser kennenzulernen.
Zu entdecken, dass man sich selbst mögen kann und sich in der eigenen Gesellschaft nicht langweilt. Vielleicht ist das eine der großen Überraschungen, die solch ein Experiment für uns bereithält. Denn wer mit sich selbst Zeit verbringen mag, ist sicher auch gefeit gegen so manche unliebsame Form der Einsamkeit und kann die Gesellschaft anderer Menschen wahrhaft genießen – weil sie nicht nur die Funktion erfüllen, einen von sich selbst abzulenken. Wer also die Kunst der "Solitude" beherrscht, darf die Gewissheit haben, mit sich selbst im Reinen zu sein.
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Quelle: Einfach sein