Drang oder Zwang? Wann der Kontrollwahn ungesund wird
Eine Zwangsstörung ist belastend - und viele denken, sie müssten damit leben. Was wir wirklich an den Dingen ändern können, von denen wir immer geglaubt haben, wir können sie nicht ändern.
- E-Mails, SMS oder WhatsApp-Nachrichten: Erhöht der permanente Blick aufs Handy das Risiko einer Zwangserkrankung?
- Inwiefern kann Stress Auslöser für zwanghaftes Verhalten sein?
- Empfinden sich Menschen mit einer Zwangsstörung selbst als krank und behandlungsbedürftig?
- Was hat zwanghaftes Verhalten mit Angst zu tun?
- Wo liegt die Grenze zwischen "noch normal"und "bereits zwanghaft"?
- Welche Art der Therapie kann bei Zwangsverhalten helfen?
- Wenn ich das Gefühl habe, dass ich eine Therapie brauche – worauf muss ich mich einstellen?
- Wie gut sind die Erfolgschancen einer Therapie bei einer Zwangsstörung?
- Ist ständiges Grübeln ein Zeichen für eine Zwangsstörung?
- Wie kann ich eine lästige Angewohnheit wieder loswerden?
Habe ich die Wohnungstür wirklich abgeschlossen? Ist der Herd aus? Hat da mein Handy gebrummt? Ach – ich check das mal eben … Wem solche Gedanken bekannt vorkommen, der hat sich vielleicht schon mal gefragt: Ist das noch normal oder etwa der Anfang von etwas Krankhaftem? Prof. Josef Aldenhoff, Experte für Zwangsstörungen, klärt auf, ab wann man von einer Zwangsstörung sprechen kann.
Manchmal ist man morgens versucht, beim Verlassen des Hauses noch einmal zurückzugehen und nachzuschauen, ob das Bügeleisen auch wirklich ausgeschaltet ist. Ist das "nur" dranghaftes Verhalten oder bereits eine Zwangsstörung?
Prof. Josef Aldenhoff: Ich kenne das Problem selbst: Wenn ich viel Stress habe und fahrig bin, kann es schon mal passieren, dass ich zweimal kontrolliere, ob ich die Herdplatte mit der Espressokanne ausgemacht habe, bevor ich aus dem Haus gehe. Dann denke ich: Mensch, pass halt besser auf! Daher warne ich auch vor Multitasking – es begünstigt überkontrollierendes Verhalten, weil wir nicht mehr bei der Sache sind und uns daher selbst nicht über den Weg trauen. Wir tendieren dazu, vieles gleichzeitig zu tun und zu denken, und das macht unkonzentriert. Neulich war die Platte übrigens noch an. Aber Sorgen, dass ich einen echten Zwang entwickle, mache ich mir nicht. Ich weiß ja, dass meine Zerstreutheit schuld ist.
E-Mails, SMS oder WhatsApp-Nachrichten: Erhöht der permanente Blick aufs Handy das Risiko einer Zwangserkrankung?
Die Grenze zwischen dem, was normal oder schon pathologisch ist, scheint sehr schmal, weil eben fast jeder irgendwelche Ticks hat. Je genauer man hinsieht, desto klarer wird der Unterschied. Jemand, der zweimal nachrechnet, was er beim letzten Einkauf ausgegeben hat und ob der Kassenbon stimmt, mag pedantisch erscheinen, kann aber mit Sicherheit wunderbar mit Geld umgehen. Wenn wir in jedes Wohnzimmer schauen könnten, dann würden wir sehen, wie weit Spleens und Macken in allen Ausprägungen verbreitet sind. Dazu kommen neue "Zwänge" wie ständiges Schauen auf das Handy. Wir reagieren auf jedes elektronische Geräusch – E-Mail, SMS und dergleichen. Aber hier haben wir es eher mit einer Angewohnheit zu tun, die sich in Richtung digitale Sucht entwickeln kann. Pathologisch im Sinne einer Zwangsstörung wird es erst, wenn der Zwang komplett die Steuerung im Kopf übernimmt. Der Zwang überlistet den freien Willen, sich zu entscheiden, wie ich handeln, wie ich denken will. Und es kommt ja auch immer darauf an: Wie groß ist der Leidensdruck, inwieweit schränkt mich mein Verhalten ein? Das ist subjektiv.
Können alle, die in jungen Jahren nicht zwanghaft sind, aufatmen – oder entwickelt sich ein Zwang auch noch im Alter?
Pathologische Zwänge treten zum einen sehr plötzlich auf, quasi von einer Sekunde auf die andere. In den meisten Fällen im jungen Erwachsenenalter. Manchmal auch schon erstmals in der Kindheit. Dort fallen sie häufig nicht weiter auf. Kinder zeigen ja häufig ein stark ritualisiertes Verhalten, lieben Wiederholungen, etwa beim Geschichtenvorlesen. Oder sie sammeln Gegenstände und sortieren sie akribisch. Über all dieses Eigenheiten wird dann geschmunzelt – aber ein echter Zwang wird dahinter selten vermutet. Jenseits der 30 oder 40 geht das Risiko, neu an Zwängen zu erkranken, gegen null. Sie entwickeln sich eben nicht kausal, und der Forschung liegen auch keinerlei Erkenntnisse über soziale Auslöser vor: Also, dass jemand zum Beispiel ausgegrenzt, gemobbt oder dergleichen wird und daraus einen Zwang entwickelt – für einen solchen Zusammenhang gibt es überhaupt keine Hinweise. Wobei Stress bei Zwangsstörungen durchaus eine Rolle spielen kann.
Inwiefern kann Stress Auslöser für zwanghaftes Verhalten sein?
Nicht als Ursache, aber als Auslöser. Starker Stress kann den ersten Impuls zu einer Zwangshandlung geben. Als würde man einen Knopf drücken, und plötzlich geht es los. Wie aus dem Nichts. Auch im Verlauf ist Stress ein Faktor, der den Zwang verstärkt. [..] Anders als bei Depressionen oder Burn-out handelt es sich aber nicht um eine Stresserkrankung als solche. Bei einigen schwer Alkoholkranken ist es beispielsweise so, dass sie mit der Verarbeitung von Stress Probleme haben und durch den Alkohol "runterkommen". Ihr Stresssystem funktioniert nicht richtig, und sie glauben, das durch Alkohol korrigieren zu können. Andere Süchtige haben gelernt, dass sie mit ihren Emotionen besser zurechtkommen, wenn sie Drogen nehmen. Das ist bei einer Zwangserkrankung nicht der Fall.
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Empfinden sich Menschen mit einer Zwangsstörung selbst als krank und behandlungsbedürftig?
Nein, nicht allzu oft, da diese Menschen sich selten dazu durchringen, Hilfe anzunehmen. Sie wissen zwar im Gegensatz zu vielen anderen psychisch Kranken sehr genau, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, ihr Verhalten ziemlich merkwürdig und für andere auffällig oder angsteinflößend ist, aber gerade das lässt sie zögern. Sie schämen sich. Möchten nicht als schräger Vogel wahrgenommen werden. Erst wenn sie mit ihrem Verhalten nicht mehr weiterkommen und die Zwänge das alltägliche Leben unmöglich machen, kommen sie in Behandlung. Oder wenn die Angst zu groß wird, sobald ein Zwang nicht ausgeübt werden kann, weil er zum Beispiel im Büro oder in der U-Bahn zu häufig unterdrückt werden muss.
Was hat zwanghaftes Verhalten mit Angst zu tun?
Wenn ich meine Hände immer wieder wasche aus Furcht vor Infektionen, dann bekomme ich Angst, sobald ich sie nicht waschen kann. Einerseits, weil ich dann unsichtbaren Erregern ausgeliefert sein könnte. Doch bei diesem Zwang ist die Angst doppelt – denn grundsätzlich immer dann, wenn ein Betroffener andererseits seinen Zwang unterdrücken muss, löst das massive Angst bei ihm aus. Selbst wenn er seine Schuhe nach einem ganz bestimmten Ritual anziehen oder alle Ziffern auf Nummernschildern addieren muss, was ja nicht mit einer Gefahr zu tun hat, macht es Angst, den Zwang zurückhalten zu müssen. Das ist das Perfide am Zwang – die ständige Wiederholung, gekoppelt an die Angst, ihn nicht ausüben zu können. Das zusammen erzeugt eine starke Triebkraft, immer und immer wieder dem Zwang zu gehorchen.
Wo liegt die Grenze zwischen "noch normal"und "bereits zwanghaft"?
Eine bestimmte Handlung muss immer wieder und nach einem bestimmten Muster vollzogen werden. Kontrolle, Perfektionismus und Rituale spielen dabei eine große Rolle. Nehmen Sie an, Sie räumen Ihre Wäsche nach dem Bügeln weg, falten feine Stapel und sortieren alles ein. Dann stellen Sie fest, dass ein Pullover nicht im rechten Winkel auf den anderen liegt, oder die Farbe stimmt nicht – dann räumen Sie alles wieder aus und beginnen von vorn. Unter Umständen immer wieder. Oder der eine Schuh muss erst hingestellt werden, daneben der andere, aber dann fallen die Schnürsenkel falsch, und Sie müssen den einen Schuh wieder ausziehen und die Schuhe erst wieder korrekt platzieren. Neben diesen ritualisierten Zwangshandlungen kennen wir Zwangsgedanken. Hier findet der Zwang rein im Kopf statt. Der Betroffene muss zum Beispiel zählen und rechnen.
Welche Art der Therapie kann bei Zwangsverhalten helfen?
Bei Zwangshandlungen ganz klar zu einer Verhaltenstherapie – man übt also ein anderes Verhalten ein, mit dem der Zwang quasi überschrieben wird. Interessanterweise funktioniert diese Methode bei Zwangsgedanken überhaupt nicht. Diese werden mit Antidepressiva behandelt. Wahrscheinlich deswegen, weil Sie ja nicht steuern können, was in Ihrem Kopf vor sich geht. Dagegen helfen sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. (Der Botenstoff Serotonin spielt eine wichtige Rolle für unsere Stimmung, ein Serotoninmangel macht sich als Depression bemerkbar, Anmerkung der Redaktion). Hinzu kommt, dass Zwangsgedanken und Depressionen häufig gekoppelt vorkommen. Zwanghafte Gedanken haben oft den Charakter übertriebener Sorgen und Ängste, die nicht abgeschüttelt, nicht gestoppt werden können. Da erzielen wir mit Medikamenten, die den Serotoninspiegel regulieren, gute Erfolge.
Wenn ich das Gefühl habe, dass ich eine Therapie brauche – worauf muss ich mich einstellen?
Die Therapie muss sehr genau geplant und gemeinsam mit dem Patienten auf seine konkreten Ängste und Zwänge zugeschnitten werden. Es ist ähnlich wie mit der Konfrontationstherapie bei Ängsten: der Patient durchlebt die angsteinflößende Situation, etwa Höhenangst, zunächst im Beisein des Therapeuten, bis Angst und Pulsanstieg sich in der Situation normalisieren. Die beiden stehen zum Beispiel auf einer Brücke, der Patient spürt die Angst, sein Puls rast, er schwitzt, atmet flach, verspürt Schwindel, aber irgendwann wird es besser, er beruhigt sich, die Symptome vergehen. Wichtig ist, dass die Therapiesitzung auf keinen Fall zu früh abgebrochen werden darf. Erst wenn der Puls ganz ruhig schlägt und alle Symptome verschwunden sind, können Angstpatient und Therapeut die Brücke verlassen. Ansonsten tritt der Bumerang-Effekt ein – die Symptome verschlimmern sich sogar …
Wie gut sind die Erfolgschancen einer Therapie bei einer Zwangsstörung?
Beim Bumerang-Effekt liegt das Problem – sehen Sie, unsere Terminpläne sind recht eng getaktet, und eine Therapiesitzung dauert 45 Minuten. Da kommen Sie manchmal in Bedrängnis, weil man nie weiß, wie lange es dauert, bis sich der Patient beruhigt hat. Und wie gesagt, wenn ich als Arzt und Psychiater zu früh abbreche, gefährde ich die Therapie, weil sich der Zwang danach noch verstärkt. Daher muss ich bei so einer Therapiesitzung unbedingt ein offenes Ende planen. Nach ausführlichen vorbereitenden Gesprächen müssen beide gemeinsam es im Rahmen einer Sitzung aushalten, dem Zwang nicht nachzugeben. Wie lange das dauert, ist schwierig abzuschätzen. Hinzu kommt auch: Manchmal entwickelt ein Patient einen anderen Zwang, wenn der alte überwunden ist. Da muss ich ganz sensibel nachfragen, ob sich in der Zwischenzeit ein neues Kontroll-Ritual entwickelt hat. Ein langwieriger Prozess, und ähnlich wie bei Depressionen besteht auch nach erfolgreicher Therapie das Risiko, dass eine Zwangsstörung nach einer gewissen Zeit zurückkehrt.
Ist ständiges Grübeln ein Zeichen für eine Zwangsstörung?
Den Grübelzwang kennen ja viele von uns, vor allem Frauen … Im Volksmund sprechen wir davon, wenn jemand nicht gut einschläft oder morgens sehr früh aufwacht und dann Probleme wälzt. Dahinter stecken oft reale Schwierigkeiten wie Geldsorgen oder Konflikte im Job oder in der Familie, aber solche Symptome treten auch bei Depressionen auf. Natürlich kann es angezeigt sein, sich therapeutische Hilfe zu suchen, wenn es im Zuge dessen zu Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen kommt. Aber trotzdem möchte ich noch einmal betonen, dass jemand, der zum Grübeln neigt, weit entfernt davon ist, echte Zwangsgedanken zu entwickeln. Damit haben wir es zu tun, wenn jemand zum Beispiel immer wieder eine Idee durchspielen muss, die im Grunde keinen Sinn macht. Zum Beispiel die Sorge, dass ich mich immer und überall mit einer schlimmen Krankheit infizieren könnte. Wenn Sie etwa im Geiste immer wieder die Schauspieler eines bestimmten Films aufsagen oder Telefonnummern auswendig lernen, dann fällt das in die Kategorie der obsessiven Zwänge.
Wie kann ich eine lästige Angewohnheit wieder loswerden?
Wenn Sie keine manifeste Störung haben, sondern eher "zwängeln", wie wir Fachleute sagen, etwa Ihren Kontrollwahn abschütteln oder lästige Gewohnheiten abstellen möchten, dann hilft eine ganz einfache Methode: reduzieren. Das bedeutet, konzentriert bei einer Sache zu bleiben. In dem Moment, wo ich den Herd ausschalte, bewusst nur auf diese Handlung fokussieren und nicht noch parallel aufs Handy gucken. Dann müssen Sie auch nicht kontrollieren, ob die Platte aus ist, die Tür wirklich abgeschlossen. Der Schlüssel in der Handtasche. Ständig halten wir unseren Geist auf Trab – schließen ab und denken gleichzeitig: "Ich bin schon wieder spät dran" und "Habe ich meinen Geldbeutel auch eingesteckt?" Wenn Sie trainieren, weniger auf einmal zu tun, dafür achtsamer und fokussierter auf eine Sache, dann wird Ihr Geist auf Dauer ruhiger, ähnlich wie bei der Meditation – die wurde übrigens genau dafür erfunden. Um der menschlichen Tendenz, Multitasking zu machen, ein Schnippchen zu schlagen. Und wenn Sie sich nicht sicher sind, ob es schon in Richtung Zwang geht, dann entscheiden Sie bewusst, zweimal zu kontrollieren – und dann nicht mehr. Erst wenn das nicht mehr reicht, sollte man sich professionell beraten lassen.
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Quelle: Einfach sein