Ein Leben lang: Wahre Freundschaft
Es gibt vielleicht kein größeres Glück, als eine Freundschaft zu führen, die ein Leben lang andauert. Wenn zwei Seelen zu einem Schutzbündnis verschmelzen, das uns durch gute wie durch schwierige Zeiten trägt.
„Wer die Freundschaft aus dem Leben streicht, nimmt die Sonne aus der Welt", schrieb der römische Staatsmann Cicero schon vor 2000 Jahren. Heute bestätigt auch die moderne Sozialforschung, wie wichtig das Miteinander für unser Wohlbefinden ist. Gerade in der individualisierten und globalisierten Gesellschaft der Gegenwart versprechen emotionale Bindungen zu anderen Menschen Unterstützung und Halt – ein Leben lang.
Sie sind deshalb einer der wenigen äußeren Faktoren, die unter praktisch allen Umständen die Lebenszufriedenheit steigern, wie der englische Sozialpsychologe Michael Argyle nachweisen konnte. Interessanterweise ist es der Wissenschaft bis heute nicht gelungen, herauszufinden, warum wir uns mit einem zunächst wildfremden Menschen befreunden. Freundschaft lässt sich nicht erzwingen. Sie kommt plötzlich, meist ohne dass wir uns bewusst dafür entschieden hätten. Dann wächst sie, verzweigt und vertieft sich. Bei einer Telefonumfrage in Deutschland nannten die Angerufenen spontan die Begriffe Vertrauen, Helfen, Gespräche und gemeinsame Interessen als Gründe, warum zwei Menschen Freundschaft schließen. Und es gibt vor allem einen Grund, warum sie beieinander bleiben: die Empfindung, beim anderen zu Hause zu sein.
"Ein warmes Gefühl des Geborgenseins markiert das Ende der Einsamkeit. An seinem Zustandekommen sind wahrscheinlich Endorphine beteiligt, jene opiumähnlichen Hormone, deren Freisetzung im Gehirn Wohlbefinden hervorruft", schreibt der Wissenschaftsautor Stefan Klein. "Das Gefühl, allein zurechtkommen zu müssen, kann Studien zufolge den Körper krankheitsanfällig machen. Emotionale Bindungen hingegen heilen, indem sie solchen Belastungen entgegenwirken."
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Wenn zwei Seelen verschmelzen und Vertrauen entsteht
Eine Freundschaft, die ein Leben lang andauert, war das Ideal des Philosophen Michel de Montaigne. Ihm selbst war dies nicht vergönnt. Sein bester Freund Étienne de La Boétie starb im Alter von 33 Jahren.
Den Philosophen hat dieser schmerzhafte Verlust 20 Jahre später zu seinem legendären Essay "Über die Freundschaft" inspiriert. Darin macht er uns auf etwas Entscheidendes aufmerksam - nämlich dass Zeit ein wesentliches Qualitätsmerkmal von Freundschaften sein kann. "Bei der Freundschaft, von der ich spreche, verschmelzen zwei Seelen und gehen mit der Zeit derart ineinander auf, dass sie sogar die Naht nicht mehr finden, die sie einte." Für ihn besteht das Wesen wahrer Freundschaft in ihrer Freiheit und Freiwilligkeit. Kein Zweck, kein Vertrag bindet und belastet sie. Gute Freunde sind einander vertraut und gehen doch eigene Wege; sie erklären sich und müssen sich doch nicht rechtfertigen; sie empfinden Zuneigung und dürfen dennoch Distanz halten. Wahlverwandte sind zudem toleranter als die Familie. Sie begegnen einander auf Augenhöhe, ohne Machtkämpfe, dafür mit viel Respekt. Die Andersartigkeit des langjährigen Freundes, seine Macken und Schwächen, seine Privat- und Intimsphäre zu respektieren, ist eine Selbstverständlichkeit. Nach Montaigne ist eine gute Freundschaft eine auf wechselseitigem Verständnis beruhende innige Beziehung. Ihr wichtigstes Merkmal ist die gegenseitige Anteilnahme. Das klingt banal und ist doch eine erste Hürde, an der viele Beziehungen scheitern, die eine Freundschaft sein wollen. "Gegenseitig bedeutet ausgewogen im Hin und Her des beiderseitigen Sich-Bemühens um den anderen. Wer immer nur hofhält, den Weg zum anderen aber nie findet, ist kein guter Freund", schreibt Martin Hecht in seinem Buch "Wahre Freunde". "Umgekehrt, bei guten Freunden ist die Ausgeglichenheit des Empfangens und Besuchens selbstverständlich, so sehr wie das gleichmäßige Wechselspiel von Erzählen und Zuhören, so sehr auch wie es beim Ballspiel erst richtig Spaß macht, wenn der Ball immer wieder hin und her fliegt."
Was unseren Freund von unserem Bekannten unterscheidet
Auch über längere Zeitabstände hinweg ist es in der Freundschaft wie im Sport: Heimspiele und Gastspiele sollten sich die Waage halten, sonst stimmt etwas nicht. Das gleiche gilt für die Teilnahme, die wir dem anderen entgegenbringen. Teilnahme bedeutet dabei mehr, als nur jemanden irgendwie sympathisch zu finden. Ein Freund ist wahrhaft interessiert am Wohlergehen des anderen, sein Teilnehmen entspringt seiner Sorge oder auch Freude, sie ist ihm niemals nur Pflicht oder das Ergebnis einer guten Erziehung. "Teilnehmen bedeutet, sich nicht nur an den praktischen Problemen des anderen zu beteiligen, sondern vor allem am Gemütsleben, am Schicksal seiner Person, an seinem Leben teilzunehmen", schreibt Martin Hecht. "Indem wir uns in persönlichen Dingen austauschen, erleben wir den anderen und durch ihn uns selbst. Dann erst gibt uns Freundschaft das Gefühl, dass wir zusammengehören, dann vermag sie diejenigen, die sie teilen, gegenseitig zu bestätigen." Dieses gegenseitige Interesse an der Persönlichkeit des anderen macht den Unterschied einer Freundschaft zum Small Talk unter guten Bekannten aus. Dabei bezeichnet das Persönliche die innerste Sphäre unserer Individualität, die sich in ganz besonderen, einzigartigen Verhaltens- und Reaktionsweisen, in der Verarbeitung unserer Lebenserfahrungen ausdrückt.
Eine Sphäre, in die Freunde erst dann Einblick gewinnen, wenn sie uns lange begleiten. Wenn ein Blick, eine Geste, eine Berührung genügt, und der eine weiß, was der andere meint. Natürlich ist es auch schön, neue Freunde zu finden, und manchmal gelingt das sogar noch in fortgeschrittenem Alter. Aber alte Freundschaften sind niemals zu ersetzen; weil sich die gemeinsame Zeit, das gemeinsam Erlebte, das gemeinsam Verschmerzte und all die anderen Erfahrungen, die wir mit einem alten Freund teilen, nicht nachholen lassen.
Der führende Glücksforscher Martin Seligman ist davon überzeugt, dass Glück nicht zum größten Teil aus Genüssen, sondern aus den guten Erinnerungen daran besteht, also aus dem Fundus gelungener Lebensmomente, die uns im Rückblick befriedigen und das Gefühl geben, glückliche Menschen zu sein. Deshalb sind langjährige Freunde, die uns vielleicht schon in Kinder- und Jugendtagen zur Seite standen, von so großer Bedeutung für unser Wohlbefinden. Sie haben viele Träume mit uns geteilt, an die wir uns mit Freude zurückerinnern. Mit ihnen können wir an wunderbare Momente aus der Vergangenheit denken und sie gemeinsam noch einmal erleben. Sie zu sehen, ist wie nach Hause zu kommen, denn wir haben uns ihnen geöffnet. "Freundschaft braucht Offenheit, und zur Offenheit muss man sich trauen, vor allem zur Offenheit des Herzens", schreibt Martin Hecht. "Offen und vertraulich-innig, sicher nicht rund um die Uhr, aber doch immer wieder zu bestimmten Anlässen"² schreibt Hecht weiter. "Erst eine solche Offenheit ermöglicht das Gefühl unter langjährigen Freunden, Teil eines gemeinsamen Schutzbündnisses gegen die Außenwelt zu sein, das zusammengehalten wird von der untrüglichen Gewissheit, sich gegenseitig immer beizustehen."
Emotionale Geschichte:
Freundschaft verlängert das Leben
Ein Schutzbündnis, durch das unsere durchschnittliche Lebenserwartung um 22 Prozent steigt, wie Forscher von der Universität Bielefeld herausfanden. Denn Gefühle von Nähe und Vertrauen drosseln die Freisetzung von Cortisol, einem Stresshormon, das nicht nur den Ausbruch von Erkältungen, sondern auch von Herz-Kreislauf-Krankheiten fördert.
Zudem beschleunigt Stress das Wachstum von Tumoren. "Wir haben nachweisen können, wenn eine halbe Stunde vor einem Stresstest ein Proband auch nur sieben Minuten bei einem Freund gewesen ist, dann hat er nach dem Test einen deutlich geringeren Cortisol-Spiegel in seinem Speichel als Testpersonen ohne Freundesbesuch", sagt der Zürcher Psychologe Markus Heinrichs. Festgestellt wurde außerdem, dass unser Körper in Momenten emotionaler Zuwendung das Hormon Oxytocin produziert. Bei regelmäßiger Oxytocinausschüttung sinkt der Blutdruck, und Krankheiten heilen schneller. Schon ein einziger Freund erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand von einem Herzinfarkt erholt, um 70 Prozent. Wissenschaftler sprechen von der Magie der Wahlverwandtschaft, die ja nur besteht, weil wir um unserer selbst Willen gemocht werden.
Du bist du, und ich bin ich, weil wir sehr gute Freunde sind
Sind Teilnahme, Offenheit und Vertrautheit erfüllt, ergeben sich alle weiteren Merkmale einer guten Freundschaft wie von selbst. Die Abwesenheit von Konkurrenz- und Neidgefühlen stellt sich dann automatisch ein, wie auch die Gewissheit, dass der andere ehrlich, zuverlässig und vertrauenswürdig ist.
Wahrhaftige Freunde wünschen einander nur Gutes, sagte auch der antike Philosoph Aristoteles. "Eine solche Freundschaft hält, solange beide tugendhaft sind, und kann damit auch dauerhaft sein." Wenn wir aber übertriebene Anforderungen an Freundschaften stellen, entwerten wir unsere sämtlichen Beziehungen. Wir sollten deshalb lernen, unsere Mitmenschen realistisch zu sehen und dennoch am Ideal einer Freundschaft für ein Leben lang festhalten. Der griechische Philosoph Aristoteles war der Ansicht, dass es drei Arten von Freundschaften gibt, die erstens wegen des gegenseitigen Nutzens, zweitens wegen der Lust Jahr für Jahr gepflegt werden. Und drittens, weil eine Seele zur anderen findet. Psychologen sprechen heute von "differenzierten Freundschaften": Mit der einen langjährigen Freundin gehen wir zum Sport und ins Kino, die andere gehört quasi zur Familie, und wieder eine andere ist unsere beste Therapeutin. Was sie jedoch alle eint, ist die tiefe Verbundenheit mit uns. Nur so entsteht die Möglichkeit zum freundschaftlichen Verständnis, ja zur Identifikation, ohne sich selbst dabei zu verlieren. Zu dem Gefühl, das Michel de Montaigne als das Geheimnis wahrhafter Freundschaft beschrieb: "Wenn man in mich dringt zu sagen, warum ich Étienne de La Boétie liebte, fühle ich, dass nur eine Antwort dies ausdrücken kann: Weil er er war, weil ich ich war."
Quelle: Magazin TV Hören und Sehen