Eine Hommage an die Höflichkeit und gutes Benehmen
Gerade in unseren schnellen Zeiten sollten wir uns den Luxus der netten, kleinen Gesten viel häufiger gönnen und höflicher zueinander sein. Ein Plädoyer für mehr Feingefühl.
"Die Blumen zahle ich!", sagte letzten Samstag der Mann vor mir an der Supermarktkasse. Mein erster Reflex – streng erwidernd: "Ne, die habe ich mir aufs Band gelegt." Bis ich verstand: Dieser Wildfremde möchte sich einfach nur freundlich bedanken, dass ich ihn in der Schlange vorgelassen hatte.
Manchmal sind es solche Kleinigkeiten, die unser stressiges Alltagsprogramm mit ein klein wenig Zuckerguss überziehen. Wenn uns jemand anlächelt, statt loszupoltern. Oder den Anruf rücksichtsvoll vertagt, statt den kompletten S-Bahnwaggon mit den News vom Elternabend zu belästigen. Eine Mehrheit unserer Mitmenschen glaubt laut Umfragen allerdings, dass genau diese Aufmerksamkeit für andere, dass Respekt und Benimm, in unserer Gesellschaft schwinden. Nur eine gefühlte Wahrheit oder ist da was dran? Wir fragten Prof. Dr. Sebastian Büttner von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Heute schon einer Dame den Vortritt gelassen?
Ich hatte noch keine Gelegenheit, weil ich per Rad zur Uni kam. Was in gewisser Weise typisch ist für unsere Gesellschaft: Wir haben viele Möglichkeiten, direkte Begegnungen zu vermeiden. Häufig schauen wir sogar aus Höflichkeit weg, um anderen nicht zu nahe zu treten.
75 Prozent aller Deutschen glauben jedenfalls, dass ihre Mitmenschen heute viel unhöflicher sind als früher. Ist das so?
Es gab zu jeder Zeit Leute, die behaupteten, früher wäre alles besser gewesen. Aber eine Tendenz zu schwindender Höflichkeit sehe ich tatsächlich. Das hat viel mit Unsicherheit zu tun: Anfang des 20. Jahrhunderts war durch Etikette und Hierarchien geordnet, wer sich wem gegenüber wie zu verhalten hatte. Inzwischen leben wir in einer demokratischeren Gesellschaft. Unsere Normen sind nicht mehr so klar definiert. Fährt man heute auf eine Hochzeit, weiß man nicht automatisch, was anziehen: Anzug, Smoking, Frack. Oder reichen Jeans?
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Vielleicht nörgeln wir auch schneller, weil unsere Toleranzschwelle niedriger geworden ist?
Auch das hat damit zu tun, dass unsere Normen nicht mehr so klar definiert sind. Je sicherer Menschen sich in ihrem sozialen Status fühlen, desto höher liegt die Toleranzschwelle.
Schaut man Politiker wie den US-Präsidenten an, hat man aber nicht das Gefühl.
Er ist ein Beispiel für einen Neureichen, der aber nicht zum 'Establishment' gehört, daher ein Bedürfnis nach Bestätigung hat. Er ordnet sich Konventionen bewusst nicht unter – und für dieses Cowboy-Verhalten wird er von vielen verehrt.
Benimm nutzt am Ende jedem, denn Freundlichkeit kommt zurück
Ist gutes Benehmen normalerweise eine Frage des Alters?
Nein. Jugendliche rebellieren sicherlich gerne gegen Regeln, die sie eingetrichtert bekamen. Andererseits: Vor 50 Jahren hatte man Angst vor Lehrern. Heute wird deren Autorität eher infrage gestellt – altersübergreifend! Respekt vor Älteren oder Instanzen wie dem Pfarrer, diese Normen gelten nicht mehr automatisch. Das liegt nicht an einem Werteverfall, sondern eher daran, dass jetzt Kundenorientiertheit zählt. Deshalb wird Leistung – auch die von Lehrern – zum Beispiel auf Portalen bewertet.
Fehlt uns womöglich die Zeit für Benimm?
Offenbar. Unsere Gesellschaft ist auf Effizienz getrimmt. Und je schneller sich unser Alltag gestaltet, desto mehr Floskeln des Anstands fallen hintenüber. Wer schreibt heute noch "Hochachtungsvoll" unter Briefe? Nebensätze werden selbst im Beruf gestrichen.
Braucht es dann Höflichkeit noch?
Ja, sie bedeutet schlicht, dass ich den anderen anerkenne und respektiere – und selbst anerkannt werde. Ohne Höflichkeit gibt es kein soziales Miteinander. Benimm nutzt am Ende jedem – man bekommt für seine Freundlichkeit auch etwas zurück.
Bei aller Nettigkeit sollten Sie allerdings auch aufpassen, dass Sie es damit nicht übertreiben. Sehen Sie hier, ob Sie vielleicht zu nett sind (Artikel geht unter dem Video weiter):
Erwachsene im Auto geben oft nicht das beste Vorbild: Da wird ein Parkplatz weggeschnappt oder das Einfädeln stur abgeblockt.
Es gibt Studien, wonach die Leute sich in ihrem Auto außen vor fühlen, als gälten die üblichen Anstandsregeln nicht. Hinter der Windschutzscheibe fallen ja auch gerne mal Schimpfwörter, die sie "Face to Face" nie benutzen würden. Von solchen Situationen, in denen wir glauben, sämtliche Formen von Respekt vergessen zu dürfen, gibt es noch mehr: Die moderne Gesellschaft lädt dazu ein. In der Anonymität von Großstädten muss ich mir über Ansehen oder Gesichtsverlust kaum Gedanken machen: Ich muss nicht freundlich sein, wenn ich im Supermarkt einkaufe. Wer kennt dort schon meine Familie? Und beim Internet-Shopping brauche ich nicht mal mehr "Guten Tag" zu sagen.
Was beeinflusst Umgangsformen?
Popkultur und private TV-Sender trugen sicher auch zum Kulturwandel bei. Manche Comedians füllen mit frauenfeindlichen Späßen ganze Hallen. Frech sein als Tugend ist eine Art Gegenbewegung zur herkömmlichen Anstandskultur. Heute sind Rapper oder Fußballer oft Vorbilder – und deren Form von Höflichkeit.
Wie sehr hat das Internet unser Feingefühl ramponiert?
Durch moderne Technologien und soziale Medien ist es einfacher geworden, unmittelbar mit anderen in Kontakt zu treten. Üble Beschimpfungen gab es immer. Doch im Netz kann man Müll ungebremst abladen. Weil aber Web-Kommentare sichtbar sind, entsteht der Eindruck, alle Dämme seien gebrochen. Das regt Nachahmer an. Wir müssen den Umgang mit neuen Medien noch lernen. Netzprofis, etwa Chat-Moderatoren, achten ja schon auf die Einhaltung von Regeln.
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Also veränderten soziale Medien nichts?
Doch! Unsere Ausdrucksweise wandelt sich. SMS, WhatsApp, Twitter – diese Kommunikationswege sind auf Effizienz ausgelegt. Keiner würde einen Facebook-Post in voller DIN-A4-Seitenlänge lesen! Anreden fallen weg, Du statt Sie überwiegt. Nicht, weil man keine Anstandsregeln beherrscht, sondern weil manche Kompetenzen für bestimmte Kanäle eben nicht angewandt werden.
Beobachten Sie auch positive Neuerungen?
Die Globalisierung sensibilisiert uns für Höflichkeitsregeln verschiedener Kulturen. Insgesamt nimmt die "Political Correctness" zu. Gerade wenn die Welt zusammenrückt, ist Höflichkeit wertvoller denn je.
Kann Höflichkeit entwaffnen?
Nicht in ihrer starren Form, wie sie als Benimm in 50er-Jahre-Tanzkursen gelehrt wurde. Doch schon Gandhi wusste, dass friedvoller Protest machtvoller sein kann als Gewalt. Genauso funktioniert Freundlichkeit bis heute extrem effektiv gegen Grobheiten.
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