Schicksal der Woche: "Ich habe einen Menschen auf dem Gewissen"
Einen Augenblick war Monika (61) auf der Straße unachtsam – seitdem verantwortet sie den Tod eines Menschen. Wie kann sie damit weiterleben?
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In unserer neuen Rubrik 'Schicksal der Woche' berichten Menschen anonym über sensible Themen, die sie bewegen. Liebenswert befragt im Anschluss einen Experten zu dem Thema: Was kann in einer solchen Situation helfen und worauf sollte ich achten?
Das Schicksal dieser Woche: Eine Frau, die für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich ist.
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Doch wie konnte es nur so weit kommen, dass Monika* ein Menschenleben auf dem Gewissen hat? Das erzählt sie uns hier selbst:
"Du glaubst gar nicht, wie sehr mich Peter* schon wieder in den Wahnsinn getrieben hat. Er hört mir nicht zu. Und er macht...", lästert meine Freundin Birgit* schon wieder über ihren Nichtsnutz von Ehemann.
Doch bei unserem Kaffeetreffen bekomme ich von ihren Lästereien kaum etwas mit. Das geht alles an mir vorbei. So wie ich mittlerweile auch mein eigenes Leben nur noch wie in Trance durchlebe. Denn mein Unterbewusstsein lässt mich jede Sekunde an den Tag zurückerinnern, der mich und mein Leben komplett veränderte. Der Tag, an dem ein anderer Mensch wegen mir sein Leben verlor.
Ich sah nur durch meine rosarote Jugendbrille
Dieser eine Moment verfolgt mich mit jedem Schritt, egal wohin ich auch gehe. Schon seit über 20 Jahren. Ich weiß noch immer nicht richtig damit umzugehen. Ich erinnere mich aber noch ganz genau daran. Es war am 23. Juni, ein sonniger Mittwochnachmittag. Ich war gerade mit der Arbeit fertig geworden und wollte mich auf den Weg machen, um mich mit meiner Jugendliebe Stephan* zu treffen. Wir hatten uns vor wenigen Wochen erst auf einer Datingseite wiedergefunden. Ich war seit drei Jahren geschieden und als ich ihn auf dieser Datingseite sah, war es wieder um mich geschehen. Auch er kam gerade aus einer gescheiterten Beziehung. Deshalb konnte es für mich auch nicht schnell genug gehen. Ich wollte ihn endlich wiedersehen. Ich hatte am Morgen noch in meinen alten Sachen gewühlt und ein wunderschönes, blassrosafarbenes Kleid aus meiner Jugend entdeckt, was ich auch bei meinen damaligen Dates mit Stephan öfter getragen hatte. Und ich konnte meinen Augen kaum glauben: Ich passte tatsächlich noch in das Kleid!
Völlig euphorisch fuhr ich also in meinem Caprio los. Die Sonne knallte mir auf die Stirn, ich trug eine rosarote Brille, während ich mit dem Auto schnell über eine Landstraße jagte. 60 km/h, 70, 80, auch die 90 Kilometer pro Stunde knackte ich locker. Es konnte mir nicht schnell genug gehen. Ich weiß nur noch, dass ich ziemlich laut das Radio bei "What is love?" aufdrehte. Dann überkam mich ruckartig absolute Finsternis und alles wurde schwarz.
Böser Albtraum oder brutale Realität?
Ich träumte, dass ich auf einer Landstraße fuhr und in einer nicht einsehbaren Kurve einen Traktor überholen wollte. Dabei sah ich allerdings nicht das mir entgegenkommende Auto. Der Fahrer hupte mehrmals, als er mich direkt auf sich zufahren sah. Doch ich schaffte es nicht mehr, rechtzeitig hinüberzuziehen. Mit einem Schlag wachte ich auf. Was ein schlimmer Albtraum. Zum Glück war er vorbei. Ich schaute mich um. Wo war ich bloß? Von meinem rechten Arm führten einige Schläuche zu Tropfen. Links surrten irgendwelche Geräte. War ich etwa im Krankenhaus? Aber was war passiert? Dann traf mich plötzlich die grausame Erkenntnis. Ich hatte nicht geträumt…
Die Ärzte sagten mir, dass ich schwere Prellungen am Bauch hätte und mein linker Fuß verstaucht sei. Das hätte auch definitiv schlimmer ausgehen können. Wie beim anderen Autofahrer. Dieser hatte den Aufprall nicht überlebt, wie mir der Chefarzt der Klinik mitteilte. Sie konnten nichts mehr für ihn tun. Er war tot. Meinetwegen. Weil ich nicht schnell genug zu Stephan kommen konnte.
Ich hatte überlebt, aber zum Leben war ich völlig unfähig
Die nächsten Wochen waren besonders schmerzhaft. Doch die Schmerzen waren nicht physisch. Jede Nacht wachte ich schreiend und nassgeschwitzt auf. Geplagt vom immer gleichen wiederkehrenden Albtraum. Weit aufgerissene Augen, die mich für vielleicht drei Sekunden anstarrten, bevor alles zu spät war. Dann hörte ich nur noch ganz leise das Geheul der Sirenen. Ich konnte seit dem Unfall nicht mehr schlafen. Nächtelang lag ich im Bett und musste an den Mann denken, dessen Leben von jetzt auf nachher einfach ausgelöscht wurde. Er war Mitte 30, hatte eine Frau und zwei Kinder, die nun ohne ihren Vater aufwachsen mussten. Meinetwegen.
Nach zwei Wochen kam ich aus dem Krankenhaus – aber war zum Leben völlig unfähig. Ich stand unter einem nicht aufhörenden Schockzustand. Geplagt von Angst, wie es nun für mich weitergehen sollte, bewältigte ich weiterhin meinen Haushalt. Aber ich war innerlich leer. Alles passierte nur noch wie in Trance, ich nahm nichts mehr bewusst wahr. Ich aß kaum noch, in den ersten Monaten nach dem Unfall nahm ich mindestens 15 Kilo ab, weil mich Essen plötzlich völlig kalt ließ und ich keinen Hunger mehr verspürte.
Stephan, meine Jugendliebe, hatte mich nach dem Unfall und dem Krankenhausaufenthalt immer wieder besucht. Ich hatte ihm nicht gesagt, wie der Unfall abgelaufen war. Seit wir uns nun wieder regelmäßiger sahen, wurde ich von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen übermannt. Hatte ich noch ein Recht darauf, glücklich zu sein und mit ihm quasi ein zweites Leben zu beginnen? Nachdem ich wegen meiner Unachtsamkeit ein anderes Leben zerstört habe? Ich ließ mich komplett gehen, vernachlässigte meine Körperhygiene.
Und spürte gleichzeitig, wie ich immer wieder von Wutanfällen übermannt wurde. Die kleinsten Dinge, wie eine nicht ausgeräumte Spülmaschine, brachten mich völlig zur Weißglut. Es brodelte in mir wie bei einem Vulkan, der bald auszubrechen drohen würde, wenn ich weiter nichts unternahm. Doch schon wenige Minuten später brach ich in Tränen aus. So ging das eine lange Zeit. Bis es Stephan zu bunt wurde. "Monika, Schatz, ich weiß, dass du nicht mit mir darüber reden möchtest. Aber das kann so nicht weitergehen", redete er mir einfühlsam zu. "Geh' doch zu einem Therapeuten, der kann dir professionell weiterhelfen."
Ein kleiner Teil meiner Seele ist an diesem Tag auch gestorben
Und er hatte recht. Zum einen damit, dass das so mit mir nicht weitergehen konnte. Ich war nur noch ein Wrack, ein Schatten meiner selbst und das, obwohl meinen äußerlichen Wunden langsam abgeheilt waren. Nun galt es meine seelischen Schäden zu reparieren. Stephan behielt auch mit dem Therapeuten recht. Ich fand einen speziellen Traumatherapeuten, der mir endlich wieder einen klaren Blick auf die Dinge geben konnte. Fakt war: Ich hatte einen Fehler begangen, der einem anderen das Leben gekostet hatte. Fakt war außerdem, dass ich das nicht mehr wiedergutmachen konnte. Aber ich musste dennoch irgendwie weiterleben. Und das konnte ich dank der Therapie. Stück für Stück. Ich funktionierte wieder. Auch wenn manche seelischen Risse niemals verheilen werden. Auch heute noch spüre ich, dass ein kleiner Teil von mir damals auch gestorben ist. Und dieser laute Schlag, der Knall, verfolgt mich auch noch bis heute. Deshalb kann ich mir kein Feuerwerk mehr anschauen. Auch Kleinigkeiten, wie ein knallender Korken einer Sektflasche, lassen mich noch immer zusammenzucken. Und auch die Schuldgefühle werden mich mein ganzes Leben verfolgen.
Mein neues Leben danach
Ein paar Jahre später, ich hatte meiner Jugendliebe Stephan endlich das Ja-Wort gegeben, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Ich hatte mir damals im Krankenhaus die Adresse von Tom geben lassen. Tom, der sein Leben noch vor sich gehabt hatte und dem ich die Chance auf eine Zukunft mit seiner Familie zerstört hatte. Ich ging zur Adresse von Tom. Seine verwitwete Frau öffnete mir die Tür. Ich hatte bloßen Hass erwartet. Doch gegen meine Erwartungen nahm sie mich nur wortlos in den Arm.
Heute engagiere ich mich ehrenamtlich für Menschen mit Traumata. So habe ich das Gefühl, zumindest ein bisschen Buße zu tun und mich gleichzeitig ein wenig selbst zu therapieren. Und ich kann wieder ein verhältnismäßig normales Leben führen. Mit Stephan an meiner Seite. Ob ich jemals den Mut haben werde, ihm die wahre Geschichte hinter unserer Wiedervereinigung zu erzählen? Und wird er mich dann immer noch mit dem gleichen verliebten Blick ansehen, wie er es auch schon in unserer Jugend getan hat?
Das sagt die Traumatherapeutin
Als Heilpraktikerin für Psychotherapie betreut Sabine Harms Menschen mit unterschiedlichsten Traumata. Diese können bereits in der eigenen Kindheit verankert sein oder durch ein anderes Ereignis im Leben, an das man nicht sofort denkt, ausgelöst werden.
Im Gespräch mit Liebenswert gibt sie Frauen wie Monika Tipps, was helfen kann und erzählt wie es ist, mit einem Trauma zu leben.
Unsere Expertin zum Schicksal der Woche: Sabine Harms
Sabine Harms ist Diplom Psychologin und Traumatherapeutin aus Hamburg und betreut Menschen mit Traumata. Sie selbst wurde bereits mit Burnout diagnostiziert und hat es sich seitdem zur Aufgabe gemacht, anderen Menschen bei der Bearbeitung ihrer Traumata zu begleiten, die eigene Selbstliebe wiederherzustellen und damit Zufriedenheit und Stabilität zu schaffen. Weitere Informationen über Sabine Harms finden Sie hier.
Wie entsteht ein Trauma überhaupt?
Die meisten Menschen meinen mit Trauma das klassische Schocktrauma, was auch Monika erlitten hat. Ein Ereignis, das einen über die eigenen Grenzen des Aushaltbaren hinausbringt. Durch eine lebensgefährliche Situation, das Erleben von lebensbedrohlichen Übergriffen und Gewalt, oder Katastrophen. Wenn ich mit Menschen über das Thema spreche, dann denken sie oftmals bei Trauma an Krieg, Vergewaltigungen und fühlen sich davon nicht betroffen.
Allerdings können auch Unfälle zu einem Trauma führen. Dann gibt es noch das Bindungs- und Entwicklungstrauma. Betroffene können dabei schwer ein konkretes Ereignis in ihrer Biografie nennen. Vielmehr befanden sie sich in ihrer Kindheit in einer dauerhaft bedrohlichen Situation für das leibliche und seelische Wohl. Das kann durch chronische Vernachlässigung, Misshandlungen, Missbrauch geschehen, aber auch etwa durch emotionale Kälte der Eltern. Viele sind sich dessen zunächst gar nicht bewusst. Wir wachsen damit auf und kennen es nur so.
Durch welche Symptome kann sich ein Trauma äußern?
Wir, bzw. unser Körper, lernt durch die intensiv erlebte Angst und Bedrohung, wachsamer zu sein und ist danach quasi immer auf eine Gefahr eingestellt. Unser Gehirn wird durch ein Trauma umstrukturiert und kann Folgen wie Depressionen, Wutausbrüche, Ess- oder Schlafstörungen mit sich bringen. Auch anhaltende Magen- und Darmbeschwerden sind häufige Anzeichen für eine Traumatisierung, da es Einfluss auf den Vagusnerv – der das vegetative Nebensystem steuert – hat. Die Leiden zeigen sich aber auch durch Traumafolgeschäden, wie chronische Unruhe, Burnout, Süchte, Angst- und Zwangsstörungen, Panikattacken, Beziehungsprobleme oder auch Gefühlstaubheit.
Eine typische Traumafolge sind auch sogenannte Flashbacks. Diese können sowohl in Träumen als auch mitten am Tag kommen und werden durch die unterschiedlichsten Dinge getriggert. Bei Monika könnte das ein Traktor sein, den sie auf der Straße sieht und der sie schlagartig wieder zum Tag des Unfalls zurückversetzt.
Wie sieht Traumatherapie bei Ihnen aus?
Ich helfe meinen Klient*innen Trauma und das, was es mit ihnen macht zu verstehen. So bekommen sie eine andere Sicht auf sich selbst, die Symptome und deren Heilung. Über ein Verständnis und Mitgefühl für sich selbst, die tiefe Bearbeitung und Integration des Traumas, können Betroffene Heilung finden. Sie finden dabei Stück für Stück wieder einen Zugang zu sich und ihrer Innenwelt.
Da Traumatisierte meist den Kontakt zum eigenen Körper abspalten, bringe ich ihnen in der Therapie durch spezielle Übungen bei, wie sie diesen Kontakt wieder herstellen können. Dabei nutze ich unter anderem Achtsamkeitsübungen. Ganz wichtig ist, den emotionalen Körper mit einzubinden. Bedeutet, die körperlichen Symptome mit einer Emotion zu verknüpfen und diese auszudrücken.
Was kann passieren, wenn man nie versucht, ein Trauma zu verarbeiten?
In einigen Fällen können sich nach einem Trauma die Symptome nach einiger Zeit von selbst legen. Dabei spiele viele Faktoren eine Rolle. Leider führen gleichermaßen Faktoren dazu, warum eine akute Belastungsstörung zu einer Traumafolgestörung wird.
Zu mir kommen die Menschen, bei denen dauerhaft Symptome bleiben und Leidensdruck erzeugen. Wir sprechen dann von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Viele Klienten versuchen lange mit den Symptomen im Verborgenen zu leben. Leider führt eine PTBS oft zu Rückzügen und einer sozialen Isolation. Meiner Erfahrung nach erhöht sich mit der Zeit der Leidensdruck der Betroffenen durch die Symptome, sodass ein normales Leben immer mehr beeinträchtigt wird. Viele versuchen sich zunächst mit Medikamenten oder Suchtmitteln zu helfen, was langfristig noch mehr zu einer Verschlechterung der persönlichen Situation führt.
Was sollte man bei einem Trauma auf keinen Fall machen?
Das ist schwer zu sagen. Viele stehen nach dem traumatischen Erlebnis unter Schock und handeln wie ferngesteuert. Ich finde das Umfeld ist deshalb eher gefordert. Je mehr die Betroffenen nach einem traumatischen Ereignis die Möglichkeit haben mit empathischen Angehörigen darüber zu sprechen und all ihren Emotionen Raum zu geben, desto besser. Hier muss niemand tapfer sein und die Zähne zusammenbeißen.
Für Menschen im Alter von Monika und älter ist das häufig sehr schwer. Ich erlebe den Umgang mit Emotionen, wie großer Angst und Trauer, für diese Generation oft als stärker herausfordernd. Viele haben eine innere Grenze zum Weinen oder Schwäche zeigen. Grausam wären Sätze wie "Jetzt hab dich nicht so" oder "Der andere ist doch tot". Ich erinnere immer daran, dass es keinen Wettbewerb gibt, wer am meisten erlitten hat. Jedes Einzelschicksal und das persönlich empfundene Leid zählt. Ich empfehle unbedingt, sich fachliche Hilfe zu suchen, weil tiefe traumatische Erfahrungen fachkundige Begleitung brauchen.
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*Namen von der Redaktion geändert